Interessant auch die rein ökonomische Betrachtung der jeweils als „Einsteigermodell“ positionierten Harley:
Als ich 1977 meine Führerscheine machte, kostete eine Sporty für mich damals utopische 10000,- DM. Das wären heute 5000,-€. Zur Einordnung: Eine CB750 kostete damals 6500,-DM.
2009 kostete eine Sporty 883 8900,-€ inclusive der weltweit ausschließlich in Deutschland üblichen Abzocke namens „Überführungsgebühr“ . Das war über 32 Jahre eine geradezu mäßige Inflation von 80%, wenn man bedenkt, dass in den 70ern und 80ern zweistellige

Inflationsraten an der Tagesordnung waren (deswegen verstehe ich auch die aktuelle Aufregung zu diesem Thema nicht: Damals fand man das irgendwie „normal“, ein Aufreger so wie heute war das jedenfalls nicht). Und diese Sporty hatte gegenüber der alten von 1977 einen gummigelagerten Motor, Alu-Köpfe und -Zylinder, Hydrolifter, 5-Gang mit (sonst nur bei Premium üblicher) Schrägverzahnung, Zahnriemen und Einspritzung. Das relativiert die Inflation von 80% noch viel mehr.
2022 soll eine Nightster mit dem nun kleinsten 975 ccm - Motor 15000,-€ kosten. Das ist über gerade mal 13 Jahre (also weniger als der halben Zeit) eine Inflation von fast 70%

(Und das auch noch mit billiger Geradverzahnung

).
Gehts noch, Harley? Ich bezweifle stark, dass die angesprochene Klientel Harley als Premium im Sportbereich (sowie Endurobereich) versteht. Das sind genau die Leute, die genau rechnen, wieviel Leistung und Drehmoment bei wieviel Gewicht sie für ihr Geld bekommen. Da ist der Markenname eher zweitrangig, dass sieht man daran, dass die Preisbäume für europäische Premiumprodukte in diesem Segment nicht in den Himmel wachsen. BMW kann nur mit seiner einzigartigen Kardanenduro trotz Leistungsdefiziten wegen dieses Alleinstellungsmerkmals noch am stärksten zuschlagen, und mit dem genauso einzigartigen Reihensechszylinder. Alle anderen Preise ihrer Commodity- Produkte sind zwangsläufig scharf am Markt kalkuliert. Die Preise von MV-Agusta sind für am Markt nicht gerade außergewöhnliche Vier- und Dreizylinder (na gut, „falschrum“ drehende KW und Konisch geschliffene Nocken, aber genau das interessiert anscheinend keinen von der Zielgruppe) offensichtlich überzogen, sichtbar am marginalen Marktanteil. Triumph versucht’s erst garnicht. Im Harley-Universum selbst liegt dieser Nightster-Preis viel zu dicht an den Softails, 2009 kostete eine Street-Bob schon an die 13000€ , also 50% mehr als eine 883. Da wirkt der heute verwendete Begriff „Einsteigermodell“ schon unfreiwillig komisch.
Ich vermute, dass hier Harley die Produktionskosten und auch die Umlage der überaus hohen Entwicklungskosten für den derzeitigen Spitzen-V2 des Weltmarktes auf die Füße fallen. Von vier Ölpumpen über Phasenschieber an allen NW und Hochkantgetriebe wie bei der alten Sporty (komplexes Gehäuse = komplexes Gussverfahren) bis welterste V2-KW mit Hubzapfenversatz ohne (!) mittlere Kurbelwange geht eben nich billich. Allein schon für die Entwicklung der KW-Gesenkschmiede wollte die Werkzeugmaschinenfabrik sicher ein Vermögen, die konnte ja nicht aus dem Regal genommen werden. Eine so aufwendige V2-Bauart hat die Konkurrenz bislang tunlichst vermieden, eingedenk der traditionellen Kostennachteile von Ducati mit seiner Desmodromik, die denen seit Jahrzehnten wie ein Klotz am Bein hängen.
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„I don‘t like valves that look like golf tees. Intake valves should be the size of trash can lids, and pistons should be the size of manhole covers“ (Jay Leno)
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