…In dem Umkleidebereich herrschte zu dieser Stunde doch ein ordentlicher Andrang.
Wie beim Schichtwechsel im Bergwerk.
Eine Menge nackter und unansehnlicher Kerle mit großen Handtüchern drängelten sich an den Spinden. Einige noch voller gedämpfter Vorfreude und andere wiederum nicht gerade ernüchtert, aber doch ziemlich abgearbeitet.
Schnell und schweigend zieht man sich entweder an oder eben aus. Viel zu reden gibt es nicht. Im Grunde genommen ist es ja doch immer dasselbe. So ähnlich wie ein Besuch bei MacDonalds.
Der Hunger ist zwar weg, aber 10 Minuten später erinnert man sich noch nicht einmal mehr an den Geschmack.
Appetit kann man sich ruhig draußen holen-gegessen wird dann zu Hause.
So ein blöder Spruch! Wer den wohl in die Welt gesetzt hat?
Man hört ihn ja häufig von scheinbar glücklichen Ehefrauen. Die lächeln dann auch immer dabei. Halb verständnisvoll und halb warnend. Die anwesenden ebenfalls scheinbar glücklichen Ehemänner nicken dann auch immer dazu.
Halb verständnisvoll und halb gelangweilt.
Dieselben Typen, die sich jetzt hier an den Spinden drängeln. Vermutlich deshalb, weil Mutti nicht mehr so häufig kocht.
Vielleicht aber auch, weil sich die Essgewohnheiten der Männer in den letzten 50.000 Jahren nicht großartig verändert haben. Wer weiß das schon so genau?
Draußen auf dem Parkplatz trafen wir dann auch auf die beiden Motorradfahrer. Nur mit einem Saunatuch bekleidet, konnte man sie vorher schlecht identifizieren. Thomas fachsimpelte noch mit dem Hondafahrer herum. Wobei die Betonung mehr auf simpel, als auf Fach lag. CB-Fahrer unter sich, eben.
Wir erfuhren dann noch so ganz nebenbei, dass wohl die Motorradräuber in der Gegend unterwegs waren.
Da hatte man doch gestern erst, zwei Motorräder direkt vom Parkplatz eines anderen Bikerhotels geklaut. Eines davon war eine fast neue GS.
Vermutlich mit Alufelgen, dachte ich.
Aber davon gibt es ziemlich viele hier. Das muss noch nichts heißen.
„Die zerlegen die Dinger in ihre Einzelteile und verkaufen die dann überall hin!“, empörte sich der CB-Fahrer.
„Internet..!“, schnaufte Charly. Er kann mit dem Internet nichts anfangen, und hält das World Wide Web für die Quelle allen Übels auf dieser Welt.
„Das sind solche Balkanindianer“, behauptete der andere Motorradfahrer.
„Albaner, Rumänen, Zigeuner, oder weiß der Teufel- was für Völkerstämme“.
Wir nickten verstehend und beklagten dann gemeinsam und traurig den Untergang des Abendlandes.
„Hast du schon mal einen Zigeuner auf einem gekauften Motorrad gesehen?“, fragte Rainer empört.
Nun, eine sicherlich interessante Frage, aber mir wollte sich auf Anhieb der tiefere Sinn nicht erschließen. Rainer deutete meine nachdenkliche Miene in seinem Sinne.
„Na also, ich auch nicht!“, verkündete er triumphierend. Womit das dann auch geklärt war. Immer noch leicht unsicher stieg ich in den Passat.
„Was ist denn, wenn die Helme tragen?“, fragte ich Rainer.
„Wer trägt Helme?“
„Diese Sinti und Roma … wenn die Helme tragen kannst du sie doch überhaupt nicht erkennen?“
„Eben..!“, entgegnete der. „Die sind eben schlau, mit einem Helm auf dem Kopf kannst du sie nicht erkennen. Die ziehen sich einen Helm an … klauen dein Motorrad … und weg sind sie.“
„Verstehe …!“, sagte ich. „Ganz schön raffiniert … diese Typen.“
Rainer verkündete nur noch, dass er sich nicht verschaukeln lassen würde, und schwieg dann beleidigt. Wir würden schon sehen, wohin uns das alles bringen würde. Diese Ostblockerweiterung und so.
„Deine sah auch aus wie eine Zigeunerin“, bemerkte Charly und drehte sich zu mir hin.
„Aber ich bin sicher, dass die keine Motorräder klaut“, verteidigte ich die Ehre meiner schwarzhaarigen Kurzzeitfreundin.
„Alle klauen die auch nicht“, wusste Rolf dann auch. Damit hatten wir dann wohl auch das Maximum der Vorurteilslosigkeit an diesem Abend erreicht.
Rolf nahm dann eine Abkürzung. Auf irgendeiner Karte hatte er wohl gesehen, dass es eine direkte Verbindung zwischen dem Ort, in dem wir uns gerade befanden und der Hauptstraße die zum Hotel führt geben musste.
Wie so oft war auch diese unbekannte Abkürzung die wohl längste Verbindung zwischen zwei Punkten.
Rein geografisch betrachtet.
Aber wer nicht den Mut hat neue Wege zu gehen, der wird auch niemals unbekannte und neue Gegenden entdecken.
Rein erkenntnistheoretisch betrachtet.
Durchdrungen von diesen ewig gültigen Wahrheiten trafen wir dann noch vor dem Morgengrauen im Hotel ein.
Es war genau genommen doch noch lange hin, bis zum Morgengrauen.
Das Abendgrauen hatten wir zum Glück nicht miterleben müssen. In der Kellerdisco hatten sie noch einen Karaoke-Wettbewerb veranstaltet. Der Sieger hatte wohl durch seine profunden Kenntnisse des deutschsprachigen Stimmungsliedgutes überzeugt.
Es war nicht schwer zu erraten, wer wohl zum Helden des Abends gekürt wurde.
Dietmar war heiser und Dietmar war schwer zu verstehen. Nicht etwa nur wegen seiner zerfransten Stimmbänder, sondern auch und überwiegend wegen der Einwirkungen alkoholhaltiger Substanzen.
Ob er vor dem mentalen Knock-out noch seine selbst auferlegten Pflichten gegenüber Veronika erfüllen konnte, blieb zunächst unklar.
Die hatte wohl auch ordentlich zugelangt, schien aber auch noch Bedarf zu haben. Tonight or never … schien ihre Devise zu sein.
Hocherfreut bei unserem Anblick näherte sie sich in eindeutiger Absicht.
Das kann ich deshalb mit Gewissheit behaupten, weil sie sich eines doch wohl einengenden Kleidungsstückes entledigt hatte und dieses über dem Kopf schwenkte.
Die gewöhnlich von diesem Kleidungsstück verdeckten Körperteile drängten gewissermaßen zum Licht. Nur die unteren Knöpfe der halb geöffneten Bluse verhinderte das Schlimmste.
Veronika war völlig außer Rand und Band. Sie umklammerte mich mit erstaunlicher Kraft und stammelte mir mit einem betäubenden Atem irgendwelche unverständlichen Worte ins Ohr.
Das kommt gelegentlich vor, dass einem völlig betrunkene Frauen am Hals hängen. Nicht so wahnsinnig oft, aber gelegentlich schon.
Da tue ich mich dann immer ein wenig schwer. Es gibt natürlich Exemplare, bei denen man da weniger Probleme hat. Leider kommt das eher selten vor.
Bedauerlicherweise sind es aber meistens die weniger inspirierenden Vertreterinnen des anderen Geschlechts.
Nachts sind zwar alle Katzen grau, aber irgendwann geht auch mal wieder das Licht an. Da wird dann aus einer grauen Katze ganz schnell ein grauenhafter Katzenjammer.
Wer das schon mal hatte, der braucht das nicht mehr.
Ich hatte das schon.
Ob Thomas das auch schon mal hatte, weiß ich nicht. Vermutlich schon, aber ich hängte sie ihm trotzdem einfach um. Unsere Veronika.
Der war ja in dieser Beziehung relativ schmerzfrei. Soll er doch sehen, wie er klarkommt!
Bei Sandra wäre ich allerdings über meinen Schatten gesprungen. Das wäre auch nicht allzu schwierig gewesen. So einen großen Schatten werfe ich nun auch wieder nicht, wenn es um derartige Dinge geht.