…Die Batterie machte mir jedenfalls momentan keine Probleme. Kein Wunder, es war ja auch keine Originalbatterie.
Rainer bot mir an, mich zu einer freien Werkstatt zu begleiten. Mit deren Inhaber hatte er wohl schon gelegentlich zu tun gehabt. Die wären sehr flexibel und könnten bei Bedarf auch Ersatzteile für sämtliche Marken beschaffen.
Der Laden war nur etwa 20 km entfernt und diese Entfernung dürfte bei vorsichtiger Fahrweise wohl kein Problem darstellen.
Das klang vernünftig, denn die einzige Alternative wäre Innsbruck. Das war deutlich weiter entfernt. Was hatte ich schon zu verlieren?
Während sich der Rest der Truppe wieder auf den Weg machte, fuhren wir also los, um die defekte Felge vom freien Experten in Augenschein nehmen zu lassen.
Vorsichtige Fahrweise ist relativ. Rainer legte vor, so wie Rainer eben immer vorlegte. Bei guter Gesundheit … kein Thema. Aber in der stillen Gewissheit, jeden Moment einen totalen Druckverlust am Vorderrad zu erleben, verkrampft man sich dann doch ein wenig.
Es ist kein schönes Gefühl, wenn man dann versucht, einer davoneilenden R1 durch die üblichen Tiroler Kurven zu folgen. Obwohl ich mir mittlerweile sicher bin, dass sich Rainer sehr zurückgehalten hat, kam es mir in diesem Moment völlig anders vor.
Ich hörte Abrollgeräusche, die mir zuvor niemals aufgefallen waren. Jede Schräglage wurde zu einem schweißtreibenden Ereignis. Ständig versuchte ich mir vorzustellen, welche Handgriffe und Fußaktionen nötig wären, um bei dem nun jederzeit zu erwartenden Supergau einen Abflug zu verhindern.
Es war wirklich kein schöner Ritt. Ich eierte durch die Landschaft wie ein Fahrschüler bei der ersten Fahrstunde. Ein Auge ständig auf dem Vorderrad und das andere suchte ununterbrochen die Landschaft nach potenziellen Auslaufzonen ab.
Mein internes Notfallprogramm sah vor, bei einem plötzlichen starken Flattern des Vorderrades den Lenker mit aller Kraft zu fixieren und nur mit der hinteren Bremse zu verzögern. Nicht sofort voll auskuppeln, sondern zunächst das Tempo reduzieren. Alles mit Gefühl natürlich.
Keine Ahnung, ob mich dieses Programm gerettet hätte, aber genau so hätte ich es versucht.
Rainer blieb rücksichtsvoll immer im unteren dreistelligen Geschwindigkeitsbereich. Die gute Seele!
Ich schwitzte Blut und Wasser aber Hals und Bein blieben ungebrochen.
20 km können verdammt lang werden, aber irgendwann hatten wir es dann endlich geschafft.
Der Karl kam auch sofort angeschlurft. Rainer hatte erst im letzten Jahr hier sehr günstig irgendwelche Anbauteile für seine R1 geschossen. Ohne Rechnung zwar, aber dafür wirklich sehr günstig. Warum auch nicht, wer braucht schon eine Rechnung für Moppedteile.
Karl befummelte ausgiebig meine kaputte Felge und schüttelte dann sein weises aber ölverschmiertes Haupt.
„Die is hin, dafür zohlst bei BMW mindastöns 500 … mindastöns, und den Gummi noch doazu “, verkündete er dann und schlurfte davon.
Tja, guter Rat scheint tatsächlich teuer zu sein.
Rainer sah mich fragend an. Ich überlegte und rechnete.
Karl telefonierte inzwischen außerhalb unserer Hörweite. Nach etwa fünf Minuten kam er wieder herangeschlurft.
„ 400 … oaber mit dem normalen Turanz …foast neu“.
„Dreifuffzig…“, reflexte Rainer.
„Poahhh…dann foahrts doch noach BMW“, grunzte der ölige Schrauber und drehte sich auf dem Absatz um.
Ich starrte auf meinen inzwischen fast wieder luftlosen Reifen und die demolierte Felge.
„O.k … aber nur wenn das Teil einwandfrei ist“, willigte ich ein.
Eine klare Rechnung. Ich kannte die Originalpreise.
Karl nickte und schlappte in seine unordentliche aber gut ausgestattete Schrauberhöhle. Dort standen einige gecrashte und halb zerlegte Moppeds herum. In den Ecken lagen diverse Motoren und andere schwer identifizierbare Bauteile herum. Eine spezielle Vorliebe für eine bestimmte Marke schien der Karl nicht zu haben.
Der Universalschrauber telefonierte schon wieder mit seinem Handy und wir bestaunten inzwischen einen kopflosen Vierzylinder. Das Ding schien nagelneu zu sein.
„Der Karl ist in Ordnung, den kenne ich schon länger“, beruhigte mich Rainer.
In Ordnung- ist eine ziemlich unexakte Definition. Ich kenne eine Menge Leute, die in Ordnung sind. Aber einen Gebrauchtwagen würde ich von diesen Kollegen trotzdem nicht kaufen.
Wir warteten geduldig auf das, was noch kommen würde.
Was dann nach etwa einer Stunde kam, war ein alter Kombi.
Ein Typ, der aussah, als ob er sonst Kamele verkaufen würde, brachte tatsächlich ein fast neues Vorderrad mit Reifen.
Ich fand ihn in Ordnung. Aber ein Kamel hätte ich dem auch nicht abgekauft.
Gemeinsam nahmen wir das gute Stück unter die Lupe. Tatsächlich, Felge und Reifen machten einen fast ladenneuen Eindruck.
Die Bremsscheiben waren noch besser als meine.
Der Karl klopfte dem Kameltypen auf die Schulter und der verschwand daraufhin genauso schnell, wie er aufgetaucht war.
Der Umbau dauerte etwa 10 Minuten.
Holzkiste unter die Sturzbügel- altes Rad runter-neues Rad drauf. Fertig!
Ich hatte genau aufgepasst. Für den Ausbau brauchte der Karl keine fünf Minuten. Ohne Bühne oder sonstige Hilfsmittel.
Nur das richtige Werkzeug griffbereit und dann geht das …ratzfatz…!
Jetzt mal … nur so … als kleine Denksportaufgabe. Was fällt einem unbedarften Zeitgenossen hier auf?
Genau … dieser Gedanke kam mir auch in den Sinn.
Jetzt kann man aber auch an das Gute im Menschen glauben. Rainer hatte es ja auch schon erwähnt. Der Karl ist in Ordnung.
Der Preis war zumindest Ordnung und das Teil war einwandfrei.
Man muss auch nicht immer grundsätzlich misstrauisch sein, nur weil der Zufall diesmal ausgerechnet …
Rainer hatte auch noch ausreichend Kleingeld dabei und deshalb passte es dann auch. Der Karl gab mir keine Rechnung, aber habe ihn auch nicht danach gefragt.
Wir machten uns dann auf die Rückfahrt zum Hotel. Da wir noch genügend Zeit hatten, fuhr Rainer nicht auf dem direkten Weg zurück. Es wurde dann noch eine schöne entspannte Fahrt.
Mein neues Vorderrad funktionierte sofort perfekt. Kein Unterschied- bis auf den anderen Reifen. Aber die Mischung zwischen normalem Tourance und EXP ist ja erlaubt. Glaube ich wenigstens!
Auf halber Strecke ereilte uns dann auch mal wieder die -Pest der Alpen-, wie Walter diese Radfahrergruppen so treffend bezeichnet.
Die oft erschöpften und torkelnden Strampler machen einem eine zügige Passfahrt fast unmöglich. Rainer scheuchte die Bande hupend an die Seite.
Bei mir sorgte der Zach dafür, dass die rücksichtlosen Gesellen Platz machten.
Gegenseitige Rücksichtnahme ist eben unbedingt erforderlich, gerade hier in den Alpen. Und das Rechtsfahrgebot gilt auch in Tirol. Oder etwa nicht?
Leben und leben lassen. Das kann man auch ruhig mal wörtlich nehmen.
Obwohl es mir so vorkam, als ob Rainer diesen Spruch noch nie gehört hatte.
Viele neue Freunde hat er sich an diesem Tag nicht gemacht, jedenfalls nicht unter den radelnden Bevölkerungsteilen.
Wir nahmen dann noch das Tal mit … wenn schon-denn schon.
Er war eindeutig schneller geworden, der Rainer. Ich hatte keine Chance. Aber das lag auch sicherlich an diesem Tourance-Vorderreifen. Der EXP ist eindeutig besser. Ein bisschen wenigstens.