Tag 6
Settimo Vittone - Ivrea - Cuorgnè - Lago di Ceresole - Lago Serrú - Lago Agnel - Colle del Nivolet - Autobahnring Turin - Alba - Castiglione Falletto - kreuz und quer durch die Langhe - Santo Stefano Belbo. 450km.
Es ist ein wenig ein Problem, wenn man so schöne Unterkünfte hat, daß man eigentlich noch bleiben und gar nicht weiterziehen will. Andererseits lockt die Ferne - ein Teufelskreis. Nun ja, gut gefrühstückt, bezahlt, aufgerödelt und wieder los, ab ins ziemlich dürftig beschilderte Chaos von Ivrea. Das ist uns in Italien schon häufiger passiert, daß an total offensichtlichen Abzweigen jede Menge Wegweiser stehen, die kritischen Abzweige aber immer als allgemein bekannt angenommen werden. Wir haben dazu eine Taktik entwickelt. Irgendwie einen nach Sonnenstand plausiblen Weg ins freie Land oder einen Vorort nehmen, am Straßenrand anhalten und auf die Karte schauen. Funktioniert in der Regel recht gut.
So gelangten wir auf die lange, lange Anfahrt zum Colle del Nivolet, dem einzigen Paß des Tages. Der Nivolet wäre mit 2600m Höhe in hochalpiner Umgebung eigentlich ein Touristenmagnet, aber aufgrund von Streitigkeit finanzieller Art zwischen Piemont und dem Aostatal wurde die Straße erstmal nicht durchgehend fertig gebaut, dann kam der Nationalpark in die Quere und so blieb der Paß eine Sackgasse mit Ende etwa einen Kilometer nördlich der Paßhöhe. Von diesem Paß hatte ich in alten Zeiten mal gelesen, das aber wieder vergessen und wurde durch ein Youtube-Video eines Guzzi-Fahrers wieder drauf gebracht. Wenn wir schon mal in der Gegend unterwegs sind...
Nach einem schier endlos langen Tal beginnt der eigentliche Anstieg mit einem 4km langen, steilen Tunnel, danach vorbei am Lago di Ceresole und dann auf schmaler und kehrenreicher Straße weiter bergauf. Man passiert die Stauseen Lago Serrú und Lago Agnel, am Straßenrand und auch mal quer rüber jede Menge Murmeltiere, bis man nach endlosen Kurven die Paßhöhe erreicht mit unglaublich spektakulärem Panorama der Grajischen Alpen. Nach selbiger geht es noch ein wenig die unfertige Nordrampe hinab, dann ist Ende, allerdings mit tollen Blicken in den Gran-Paradiso-Nationalpark und auf den Gran Paradiso (4061m, der höchste rein inneritalienische Gipfel) selber. Rückweg wie Auffahrt. Und anscheinend ist es regional üblich, die Hunde mit dem Auto Gassi zu führen.
Auf der Fahrt das Orco-Tal hinab nutzten wir eine Tankstelle mit Café für unsere Mittagspause und eine vorgezogene Unterkunftssuche. Ich war in Youtube mal über ein Video gestolpert, ein HOG-Event in einer Weingegend namens Langhe, etwas westlich von Asti und nordöstlich von Cuneo. Wunderschöne Bilder von Weinbergen und Dolce Vita. Das wollte wir uns auch mal ansehen, also wurde das Hotel aus dem Video telefonisch angefragt. Leider war alles ausgebucht, also hinfahren und schauen, was sich sonst so anbietet.
Nach einer langweiligen, aber weitgehend stressfreien Umfahrung von Turin erreichten wir Alba, das Eingangstor zur Langhe. Ein kurzer Exkurs zum Thema Service... die Road King war vor dem Urlaub extra noch beim Kundendienst gewesen. Mit dem Hinweis auf den bevorstehenden Alpenurlaub. Der Zustand der Bremsbeläge war der Werkstatt aber wohl keine Erwähnung wert. Hin und wieder schau ich halt selber mal nach und was ich am Vorderrad sah, gefiel mir von Tag zu Tag weniger. In Alba äußerte die Angstbremserin den Wunsch, zwecks T-Shirt-Erwerb den Harley-Händler bei Barolo aufzusuchen (BTW, keine Dealer-Shirts in Damenschnitt verfügbar). Ich war ihr natürlich gefällig in dieser Angelegenheit. Da standen wir dann unter dem Sonnendach zwischen der örtlichen Stammkundschaft (endlich Schatten!) und bei der Gelegenheit fragte ich den Mechaniker, ob er mir die Beläge nicht einfach wechseln könnte. Hilfreich, wie der Italiener so ist, rollten wir dann mit frisch bestückten Bremsen vom Hof. Nur zu Materialkosten, dafür gab es einen Schein für die Kaffeekasse.
Während aber die Madame die Kleiderregale durchstöberte, zückte ich das Handy und ließ mir anzeigen, was booking als Alternativen zu unserer ursprünglichen Wunschbleibe anbot. Da war ein altes Weingut, hübsch, mit Pool, ohne Restaurant aber in Ortsnähe. Das würden wir einfach ausprobieren. Das Weingut lag in Santo Stefano Belbo, südwöstlich von Alba, die Fahrstrecke bis dort verdreifachten wir schnell mal durch einige Schleifen über die Straßen der Langhe. Am Ende war dieses Eck die Entdeckung unseres Urlaubs, eine traumhafte Landschaft zwischen Weinbergen und Haselnußsträuchern, Dörfer in den Tälern, Dörfer oben an den Hängen, dazwischen unzählige kleine, kurvige Straßen. Das vergleichsweise geringe Verkehrsaufkommen ermöglichte eine sehr entspannte Fahrerei. Wunderschön. So, wie die Toskana wohl gerne wäre.
Kurz vor Ende der Dämmerung erreichten wir dann schließlich unser Weingut, geschätzt 18. Jahrhundert, mit verputzter und bemalter Balkendecke, Kamin und auf der Anrichte schon mal zwei Flaschen des lokalen Weins. Für Italien unüblich sprachen die Wirtsleute sehr gutes Englisch, die Road King durfte im Hof zwischen den Landmaschinen neben der GS des Hausherrn parken. Für das Abendessen bekamen wir einige Tips im Ort, zehn Minuten Fußweg entfernt (Standard übrigens innerhalb italienischer Ortschaften, alle zwanzig Meter wird man von einem anderen Hund verbellt). Bier aus München, aber reichlich lokaler Wein und sehr gutes Essen.
Noch keinen Plan für den nächsten Tag, wir waren erstmal beschäftigt damit, happy zu sein.